Balint Journal 2007; 8(3): 101-102
DOI: 10.1055/s-2007-981296
Leserbrief

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Eine hausärztliche Anmerkung

Leserbrief zu: Balint 2007; 8: 44-53 Schüffel, Stunder: Verändert sich die Arzt-Patient-Beziehung beim Hausbesuch? - Das Element der Zeitlichkeit: Brägele und MaultaschenS. Scheerer1 , [*]
  • 1Alte Poststraße 12, 15518 Heinersdorf
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Publication Date:
26 October 2007 (online)

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Sechs Hausärzte fühlen sich aufgerufen, einen Bericht über drei Hausbesuche, die damit verbundenen Patientengeschichten, die Gestaltung der Arzt-Patienten-Begegnungen und deren Schlussfolgerungen auf sich wirken zu lassen.

Wie in der Balintgruppe nach der Fallvorstellung geben sie Rückmeldungen: Wie wirkt der Bericht, was fällt als Erstes ein, was wird verstanden, welche Fantasien, Bilder entstehen und welche Impulse werden ausgelöst? Was hat der Bericht angerichtet? Wie in der Großgruppensituation auf einer Studientagung der Deutschen Balint-Gesellschaft fungieren die Hausärzte als Innenkreis, die Leser des Balintjournals als Außenkreis, der zur Mitarbeit (Leserbriefe?) eingeladen wird, die Referenten auch.

Die Voten im Innenkreis: Um zu verstehen, sind zum Lesen mehrere Anläufe erforderlich: Im ersten Lesen ist der Text befremdlich, ja unnatürlich, im zweiten Lesen kommt ein interessantes Projekt zum Vorschein. Böser formuliert, bis Seite 22 fühlte ich mich wie bei Hedwig Courths-Mahler, dann wurde die Botschaft verständlich auch in Bezug auf die Balintarbeit.

Weit ab von der haus(vertrags)ärztlichen Realität! Erstaunen, was bei Hausbesuchen zum Vorschein kommen kann, das Gefühl eigener Unzulänglichkeit schleicht sich an. Die Dynamik der ungewöhnlichen Triade (Patienten-Hausarzt-Besuchsarzt) ist zu verstehen, aber wie? Der Hausarzt als Teilnehmer in der Zeitdimension seiner Patienten steht dem Momenterleben des Besuchsarztes gegenüber. Die Interaktion beider bleibt unsichtbar, es ist spannend. Der Besuchsarzt ist nicht Supervisor, sondern psychologischer, der Hausarzt somatischer Part in den Hausbesuchssituationen. Das ist fragwürdig, zumal die Patienten über diese ungewohnte Konstellation vermutlich im Unklaren bleiben. Der Besuchsarzt ist der Dominante in den Fallvorstellungen. Er glaubt etwas zu finden, was er in seiner früheren Kliniktätigkeit offensichtlich vermisste: die „erhöhte Tiefenschärfe” in der Wahrnehmung (aller?) Beteiligten. Wo bleiben die sozialen Prozesse und Beziehungselemente?

Der Rückgriff auf Groddeck und Hieronymus Bosch löst unterschiedliche, teilweise konträre Reaktionen aus!

Groddeck macht mich neugierig, sein Gedankengebäude interessiert mich. Ich kann mit beiden (Groddeck u. Bosch) nichts anfangen. Das ES und ER stehen vermutlich für Hier und Jetzt, es bleibt beim Fantasieren und kann nicht konkreter werden. Das Anlehnen an Groddeck ist eine besondere Art, Übertragung und Gegenübertragung zu schildern. Der Bezug auf Groddeck kommt in den Verdacht des psychoanalytischen Spekulatius. Mit dem ES kann der „landläufige” Hausarzt nichts anfangen.

Hausbesuche sind wesentlicher, essenzieller Bestandteil des „Hausarztes”. Der Lebensraum des Patienten kann umfassender und realistischer begriffen werden. Die zeitlich / lebensgeschichtliche Komplexität stellt sich unmittelbarer dar als in der Praxis oder Klinik. Der Hausbesuch ist der älteste ärztliche Arbeitsplatz, wie ist der zu beforschen? Offensichtlich interessiert sich der Besuchsarzt sehr für die „Deputatleistungen” der Patienten, wobei diese dem Hausarzt selbst nicht erwähnenswert, wohl weil selbstverständlich sind. In der Regel spielen ja mehr Eier und Wurst eine große Rolle in der Beziehungspflege. Spielen diese Sachleistungen der Patienten nur eine symbolische Rolle in der Beziehungspflege, sind sie als „Bestechung” zu verstehen und kriminalisieren sie damit den Hausarzt oder sind sie lediglich eine Geste der Dankbarkeit, die gleichzeitig den Wunsch signalisieren sollen: „komm bald wieder”.

Wie weit das Projekt „Gesundes Kinzigtal” (gefördert von der Gesundheitskasse) die Gestaltung der Hausarzttätigkeit positiv verändert, bleibt eher nebulös (Plausibilität, Notwendigkeit, Wirtschaftlichkeit, EBM-Zeitvorgaben u. a. sind Vertragsarzt-Realität). Die Wahrnehmungsmöglichkeiten der Landschaft auf der Hausbesuchsfahrt sind für den Landarzt eine nicht zu unterschätzende Bereicherung. Die Anregung ist angekommen. Die Landschaft um Bitterfeld (ein tristes Industrieareal aus der DDR-Zeit) hätte eine andere psychodynamische Wirkung. Das Projekt mit drei (!) Hausbesuchen über den Zeitraum eines Vormittags (in epischer Breite beschrieben) löst die Frage nach dem Auftrag der besuchten Patienten an den Hausarzt aus: Welche Rolle haben beide Ärzte in diesem Auftrag? Geht es um Krankheitsbewältigung und medizinische Maßnahmen, Kommunikations- und Nähebedürfnisse? Oder hat der Besuchsarzt die Aufgabe, dass qualitätsgemanagt die Subjektivität in der Arzt-Patienten-Beziehung im Schwarzwald (endlich) eingeführt wird? Es ist schwierig, aus den akribisch dargestellten Hausbesuchen und ihren Interpretationen des Besuchsarztes konkrete Schlussfolgerungen für den Leser-Hausarzt zu finden.

Das bedrückende Thema Kriegstraumatisierung („Marokkis”) hat brennende Aktualität: Altersdepressionen und Angststörungen melden sich nach jahrzehntelanger Latenz beim Hausarzt drängend und unaufgefordert an, sind wir dem gewachsen und können damit für den Patienten und uns hilfreich umgehen? Das wäre intensiveren Reflexionen wert.

Das Zitat von Boris Luban-Plozza „Nichts kann die Orginalität Deiner Betrachtungsweise und Deinen Scharfblick ersetzen” nehmen die sechs Hausärzte ernst. Sie warten auf Äußerungen des Außenkreises und natürlich auch der beiden Referenten.

1 aus Beiträgen von Dieter Curschmann, Bettina Scheerer, Sigmar Scheerer, Achim Schmidt, Rainer Suske und Olaf Templin

MR Dr. med. S. Scheerer

Alte Poststraße 12

15518 Heinersdorf